Werbepsychologie
Werbung & Profiling – wie man Serienmörder in der Werbung findet
von Diana Ernemann / Mittwoch, 19. November 2025
Warum Marketing heute funktioniert wie moderne Verhaltensanalyse – nur ohne Blutspur
Wenn Kriminalpsycholog:innen Serienmörder jagen, suchen sie nach Mustern: wiederkehrende Verhaltensweisen, emotionale Trigger, Spuren, die auf ein tieferliegendes Motiv hinweisen (Canter 2000; Douglas & Olshaker 1995).
Überraschen oder nicht – Werbung funktioniert im Prinzip genauso.
Nur: Statt Täterprofilen analysieren Marketer Klickpfade, Interessen und Entscheidungsmuster, um zu verstehen, was Menschen bewegt, motiviert oder aktiviert. Profiling und Werbung haben mehr gemeinsam, als man denkt: Beide wollen Verhalten verstehen, erklären und bis zu einem gewissen Grad vorhersagen.
Dieser Artikel zeigt, warum moderne Werbung ohne psychologische Profilbildung kaum noch auskommt, welche wissenschaftlichen Modelle dahinterstehen und wo die Grenze zwischen Relevanz und Manipulation verläuft.
Was Profiling wirklich bedeutet
Profiling stammt ursprünglich aus der Kriminalpsychologie (Canter 2000; Egger 1999). Dabei werden Verhaltensmuster, Sprache und situative Hinweise genutzt, um Persönlichkeitsmerkmale, Motive und mögliche Handlungen einer Person zu deduzieren Es ist die Kunst, Verhalten aus Daten zu interpretieren und zukünftiges Verhalten zu antizipieren.
Übertragen auf Marketing funktioniert das ähnlich: Statt Tatorte analysieren wir digitale Spuren – Likes, Suchanfragen, Scrollverhalten, Verweildauer. Aus diesen Mustern entsteht ein psychologisch fundiertes Nutzerprofil, das sichtbar macht, was uns interessiert, wie wir denken und welche Emotionen uns leiten (Davenport & Harris 2007; Wedel & Kannan 2016).
Marken nutzen diese Erkenntnisse, um Inhalte relevanter zu gestalten:
- Welche Themen ziehen Aufmerksamkeit auf sich?
- Welche Emotionen aktivieren Kaufentscheidungen?
- Wann und auf welchem Kanal ist der richtige Moment für eine Botschaft?
Je präziser diese Muster erkannt werden, desto relevanter wird Werbung. Im Idealfall fühlt sie sich nicht wie Werbung an – sondern wie ein passender Impuls zur richtigen Zeit.
Von der Spurensuche zur Zielgruppenanalyse – warum Marketer wie Profiler denken müssen
Sowohl Profiler als auch Marketer:
- erkennen Muster und leiten daraus Hypothesen ab (Mitchell 1997; Domingos 2015)
- kombinieren Daten, Intuition und Kontextwissen
- suchen nach emotionalen Motiven hinter sichtbarem Verhalten
- interpretieren Situationen nie isoliert, sondern im Gesamtbild
- nutzen Empathie als Werkzeug: Sie müssen sich in andere hineinversetzen, um Verhalten zu verstehen.
Was der Tatort für Profiler ist, ist der Klickpfad für Marketer.
In der Kriminalpsychologie analysieren Profiler verschiedene Bausteine, um aus Spuren ein Muster zu rekonstruieren (Canter, 2000; Douglas & Olshaker, 1995). Diese Struktur lässt sich erstaunlich präzise auf die Zielgruppenanalyse im Marketing übertragen.
1. Der Tatort → Die digitale Customer Journey
Profiler untersuchen den Tatort, um Abläufe, Muster und Spuren zu verstehen.
Der „Tatort“ entspricht dem Klickpfad, also der Customer Journey – bestehend aus Klicks, Scrolls, Suchanfragen und Verweildauern.
Hier werden die gleichen Fragen gestellt: Was passiert wo? Welche Spuren bleiben, welche Muster entstehen?
2. Modus Operandi → Nutzergewohnheiten
Im Profiling ist der Modus Operandi das typische Vorgehen eines Täters – seine Routine (Egger, 1999).
Der Modus Operandi entspricht den Medien- und Nutzungsmustern einer Zielgruppe:
Uhrzeiten, bevorzugte Endgeräte, Formatpräferenzen, Reaktionsmuster.
3. Signature → Psychografische Motive
Die Signature zeigt das emotionale Motiv hinter dem Verhalten – das „Warum“ (Douglas & Olshaker, 1995).
Diese Signature entspricht psychografischen Triggern, die über Modelle wie Big Five (Costa & McCrae, 1992) oder Limbic Map (Häusel, 2011) identifiziert werden:
Werte, Bedürfnisse, Emotionen.
4. Viktimologie → Zielgruppenbeschreibung
Profiler analysieren die Opferauswahl, um Muster zu erkennen (Canter, 2000).
Das entspricht der Zielgruppensegmentierung: Demografien, Milieus, Lebensstile.
5. Täterprofil → Persona / Audience-Segment
Am Ende entsteht ein Profil – eine Hypothese über Persönlichkeit, Verhalten und Motive.
Im Marketing entsteht daraus die Persona oder Audience:
- Wer ist die Zielgruppe? Wie denkt sie?
- Was triggert Entscheidungen?
Während Profiler also Verbrechen aufklären, wollen Marketer Entscheidungen verstehen. In beiden Fällen gilt: Wer Muster versteht, versteht Menschen
Werbung als modernes Profiling
Im digitalen Marketing hat sich die Rolle der Datenanalyst:innen zu der moderner Profiler:innen entwickelt – mit dem Ziel, Menschen besser zu verstehen, bevor sie bewusst entscheiden. Gute Werbung basiert nicht mehr nur auf Reichweite, sondern auf Relevanz.
Dazu werden riesige Datenmengen und Milliarden Verhaltenssignale gesammelt: Klicks, Scrollverhalten, Standort, Zeit, Themeninteressen (Chen, Mao & Liu 2014). Algorithmen erkennen darin Muster und erstellen daraus sogenannte Audiences oder Personas.
Diese Datensätze haben erstaunliche Parallelen zu psychologischen Profilen:
Sie zeigen nicht nur wer jemand ist, sondern warum sich eine Person für etwas interessiert (Davenport & Harris 2007).
Beispiel: Nachhaltigkeitsaffine Zielgruppe
- liest längere Inhalte
- zeigt hohe Interaktionsbereitschaft
- reagiert emotional auf Wertekommunikation
- teilt Inhalte häufiger
Ein Algorithmus erkennt dieses Verhalten und zeigt ihnen gezielt Werbung, die zu ihren Wertvorstellungen passt, etwa für fair produzierte Mode oder klimaneutrale Reisen. So wird Werbung zu einer Art digitalem Spiegelbild unserer Entscheidungen – sie „denkt“ mit, interpretiert Emotionen und trifft Vorhersagen darüber, was uns als Nächstes gefallen könnte. Das ist modernes Profiling im besten Sinne: datenbasiert, psychologisch fundiert und darauf ausgelegt, Nähe statt Störung zu erzeugen.
Die Psychologie dahinter: Warum Menschen tun, was sie tun
Daten zeigen, was Menschen tun. Psychologie erklärt, warum sie es tun. Deshalb greifen Marketer zunehmend auf wissenschaftliche Modelle zurück, um Emotionen, Werte und Motivationen zu verstehen.
Ein zentraler Ansatz ist das Big-Five-Modell, das Persönlichkeit in fünf Dimensionen beschreibt – etwa Offenheit, Extraversion oder Gewissenhaftigkeit (Costa & McCrae 1992; Goldberg 1993):
- Extravertierte Menschen reagieren stärker auf dynamische, farbstarke Kampagnen
- Gewissenhafte Zielgruppen bevorzugen klare Strukturen und Fakten
- Offenheit „beflügelt“ Ideen, Experimente, neue Narrative
Modelle wie die Limbic Map (Häusel 2011) oder die Sinus-Milieus (Sinus-Institut 2000) ordnen Zielgruppen nach emotionalen Motiven wie Abenteuerlust, Sicherheit, Anerkennung oder Genuss. Eine Marke, die diese Motive korrekt adressiert, erzeugt Resonanz statt Streuverlust.
Kurz gesagt: Psychologie ist das fehlende Puzzleteil im datengetriebenen Marketing. Sie übersetzt bloße Zahlen in menschliche Bedeutung – und macht aus Zielgruppen echte Menschen mit Träumen, Motiven und Triggern.
Zwischen Empathie und Manipulation – die ethische Grenze des Profilings
Wo Menschen verstanden werden, besteht zugleich die Gefahr, sie zu beeinflussen. Profiling in der Werbung kann Positives bewirken – zum Beispiel, wenn Nutzer:innen relevante Inhalte statt störender Werbung sehen oder Produkte entdecken, die wirklich zu ihren Werten passen.
Doch dieselben Mechanismen bergen Risiken: Sie können Emotionen instrumentalisieren, Ängste verstärken oder algorithmische Verzerrungen (Bias) reproduzieren (Zuboff 2019; Tufekci 2015). Wissenschaftlich betrachtet spiegelt sich hier die Spannung zwischen Empathie und Kontrolle. Ein verantwortungsbewusstes Marketing nutzt psychologische Erkenntnisse, um zu inspirieren – nicht zu manipulieren. Transparenz, Datenschutz und freiwillige Einwilligung der Nutzer:innen sind dabei essenzielle Grundlagen (EU GDPR 2016).
Die besten Kampagnen zeigen bereits heute: Vertrauen ist der neue ROI. Wenn Menschen spüren, dass Marken sie respektieren – nicht analysieren, um sie auszutricksen – entsteht eine andere Wirkung: Relevanz durch Beziehung statt Reichweite durch Druck.
Fazit: Die Kunst, Menschen wirklich zu verstehen
Profiling und Werbung verfolgen dasselbe Prinzip: Muster erkennen, Verhalten verstehen, Motive entschlüsseln. Der Unterschied liegt im Ziel: Profiler wollen Wahrheit finden. Marketer wollen Bedeutung schaffen.
Moderne Werbung wird dadurch zu einer Form von digitaler Empathie: Sie beobachtet, hört zu und reagiert – nicht, um zu kontrollieren, sondern um echte Relevanz zu erzeugen. Daten liefern die Fakten, Psychologie das Verständnis. Erst gemeinsam ermöglichen sie Kommunikation, die nicht stört, sondern berührt.
Am Ende jagt Werbung keine Täter – sie sucht Verbindungen. Aber das Prinzip bleibt: Wer Menschen versteht, baut Beziehungen. Und wer Beziehungen aufbaut, schafft nachhaltige Wirkung – im ehrlichen Interesse am Menschen, nicht in der perfekten Vorhersage.
Quellen
Canter, D. (2000). Offender Profiling and Criminal Differentiation. Legal and Criminological Psychology.
Costa, P. T. & McCrae, R. R. (1992). NEO PI-R and NEO-FFI. Psychological Assessment Resources.
Domingos, P. (2015). The Master Algorithm. Basic Books.
Davenport, T. H. & Harris, J. (2007). Competing on Analytics: The New Science of Winning. Harvard Business Review Press.
Douglas, J. & Olshaker, M. (1995). Mindhunter: Inside the FBI’s Elite Serial Crime Unit. Scribner.
Egger, S. A. (1999). The Killers Among Us: An Examination of Serial Murder and Its Investigation. Prentice Hall.
Goldberg, L. R. (1993). The Structure of Phenotypic Personality Traits. American Psychologist.
Häusel, H.-G. (2011). Brain View: Why Customers Buy. Haufe.
Mitchell, T. M. (1997). Machine Learning. McGraw Hill.
Sinus-Institut (2000). Die Sinus-Milieus: Eine Praxiseinführung. Springer VS.
Tufekci, Z. (2015). Algorithmic Harms Beyond Facebook and Google. Colorado Technology Law Journal.
Wedel, M. & Kannan, P. K. (2016). Marketing Analytics for Data-Rich Environments. Journal of Marketing.
Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism. PublicAffairs.
European Union (2016). General Data Protection Regulation (GDPR).